Eine emanzipierte Frau
„In den Weinberg zu gehen war die schlimmste Strafe“, erinnert sich Ghislaine Crittin an ihre Kindheit. Ironischerweise leitet sie heute das Weingut Vieux-Pressoir mit einer Auswahl an Weinen, die sie vollständig selbst kreiert hat. Weine voller Eleganz, Charakter und Freiheit. Doch wie fand die Winzertochter, die wild entschlossen war, den Reben zu entfliehen, ihren Platz in dem Weingut, das sie sich selbst nie zu eigen gemacht hatte?
Ursprünglich träumte Ghislaine von anderen Orten, von Reisen, Grossstädten und Erfolg. Sie wandte sich dem Tourismus und Marketing zu, mit dem Ziel, „die Karriereleiter ganz nach oben“ zu klettern, wie sie es so treffend formulierte, und flog mit Schweiz Tourismus nach New York. Doch während die Wolkenkratzer vor ihr in die Höhe wuchsen, rückte das Terroir von Chamoson in weite Ferne … Bis zu dem Tag, an dem ihr Vater beschloss, sich aus dem Weingut zurückzuziehen. Sie wollte nicht zusehen, wie all dieses Know-how verloren ging. Sie wagte den Schritt und kehrte nach Hause zurück. 2011 übernahm sie offiziell die Leitung des Familienweinguts.
Ohne klassische Önologie-Ausbildung musste sich Ghislaine als Frau in einer noch immer stark maskulin geprägten Welt behaupten. Weit entfernt von Dogmen entwickelte sie eine neue Perspektive, frei von Konventionen. Für sie ist Wein in erster Linie eine Geschichte von Empfindungen, Leidenschaft und Zeit. Flaschen, die ebenso viel über ein Terroir wie über eine Lebensreise erzählen. Und was wäre, wenn im Grunde die größte Rache darin bestünde, Strafe in Leidenschaft zu verwandeln?